▶ DR. SYLVIA BLEZINGER
Es wird immer wichtiger, die Gestaltung von Gebäuden stärker auf Menschen auszurichten, die an kognitiven Einschränkungen leiden. Worauf zu achten ist.
Barrierefreies Bauen ist sowohl für Architekten als auch für Bauherren herausfordernd. Es geht dabei nicht nur um Personen mit eingeschränktem Seh-, Hör- oder Gehvermögen. Laut Schätzungen des Bundesamts für Statistik (2017) leben circa 500 000 Menschen mit einer kognitiven Einschränkung in der Schweiz. Diese Zahl umfasst Personen mit verschiedenen Beeinträchtigungen wie geistiger Behinderung, Autismus, Demenz oder Hirnverletzungen. Laut BAG sind 2,7 Prozent der hospitalisierten Patienten an Demenz erkrankt. Im Rahmen der Nationalen Plattform Demenz baut das BAG ein Monitoring in Form eines Online-Indikatoren-Sets auf. Dieses sammelt fortlaufend und systematisch Daten zu bestimmten Indikatoren der Demenzerkrankungen und Versorgungssituation in der Schweiz. Mit der älter werdenden Bevölkerung wird vermutlich in Zukunft der Anteil an Menschen mit kognitiver Einschränkung ansteigen. Planen wir jetzt geeignete Gesundheitsbauten!
Sicherheit hat oberste Priorität
Ein Argument, das ich oft auf unseren Studienreisen höre, ist, dass die Sicherheit der Bewohner oberste Priorität haben muss. Das Gebäude sollte so gestaltet sein, dass Gefahrenquellen wie Treppen oder scharfe Kanten vermieden werden. Die Türen sollten sicher verschlossen sein, um zu verhindern, dass Bewohner unkontrolliert das Gebäude verlassen oder unbefugte Bereiche betreten. Möglichst enge Überwachung soll verhindern, dass die Menschen stürzen.
In anderen Ländern ist dies anders. In den Niederlanden beispielsweise wird ein anderer Schwerpunkt gesetzt: Oberste Priorität hat hier die Lebensqualität. Es gibt viele offene Pflegeheime, auch für kognitiv stark eingeschränkte Personen. Stattdessen wird auf eine Schulung der Bevölkerung gesetzt, wie man mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen umgeht.
Der «Potsdamer Tisch» ist ein bewährtes Modell aus der Psychiatrie aus Deutschland. Will beispielsweise der demente Herr van den Borre die Station verlassen, wird er vom Pflegedienst angesprochen: «Herr van den Borre, lassen Sie uns einen Kaffee trinken gehen.» Dafür ist nur ein kleiner Bereich am Ausgang der Station erforderlich, an der eine Pflegekraft permanent stationiert ist.
Baulich kann viel erreicht werden. Gebäude müssen klar und einfach strukturiert sein. Kreativität ist gefragt: Im Vorzeige-Demenzdorf «De Hogeweyk» bei Amsterdam gibt es keine Zäune. Stattdessen bilden die Hauswände völlig unauffällig die Begrenzung nach aussen.
So viel Flexibilität wie möglich
Die Bedürfnisse von Menschen mit kognitiven Einschränkungen ändern sich im Laufe der Zeit. Das Pflegeheim sollte daher so gestaltet sein, dass nachträgliche Änderungen möglich sind. In Zukunft werden vermutlich immer stärker pflegebedürftige Personen in den Heimen und Spitälern sein. Mithilfe modernster Technik ist es bereits jetzt schon möglich, länger im häuslichen Umfeld zurechtzukommen. Wohngruppen komplett, organisatorisch und baulich zu trennen, ist generell sinnvoll. Diese könnten bei Bedarf (z. B. Norovirus) jederzeit isoliert werden. In der Bauplanung so viel Flexibilität wie möglich vorzusehen, ist daher sinnvoll. Wie viel «so viel wie möglich» aber tatsächlich ist, führt zu Recht immer wieder zu Diskussionen.
Signaletik – Orientierung und Wegeleitung
Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen ist es oft schwer, sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden. Klare Beschilderung und visuelle Orientierungshilfen sind für sie wichtig. Eine demente Person kann möglicherweise mit dem Hinweis «WC» nichts anfangen. Klar hingegen ist für sie einfach eine sichtbare Toilette (Bild 1). Bereiche hingegen, die nicht betreten werden sollen (Personalbereiche), können durch geschickte (Innen-)Architektur «versteckt» werden (Bild 2). Eine anregende Umgebung bietet ebenfalls Orientierung: Farben, Gerüche, Musik und Bilder.
Felix Bohn, Architekt und Gerontologe, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesem Thema und wird dazu an der Tagung «Das Pflegeheim der Zukunft» im Juni in Luzern sprechen. Er schreibt:
«Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sollen den Alltag möglichst sicher und selbstbestimmt bewältigen können. Es geht dabei einerseits um die Würde der Bewohnenden, andrerseits aber auch um den wirtschaftlichen Einsatz von Mitarbeitenden dort, wo er wirklich nötig ist. Ein besseres und realistischeres Selbstbild (‹Ich kann das noch!›) und Fremdbild (‹Herr Sommer kann noch mehr, als wir dachten.›) kann daraus resultieren. Und den Betreuenden bleibt mehr Zeit für Zwischenmenschliches. Gerade bei der architektonischen Gestaltung von Räumen, Raumbeziehungen, Aussenbezügen, bei der Lichtführung, dem Farbkonzept, bei der Gestaltung von Türen oder Armaturen wird dieses Ziel in der Praxis oft zu wenig beachtet, verstanden oder umgesetzt. Wenn Wohn- und Bewegungsbereiche monoton, repetitiv und ohne Aussenbezüge geplant werden, sind auch Menschen ohne kognitive Beeinträchtigungen gefordert und finden auch beim dritten Besuch ein Bewohnerzimmer nur dank seiner Nummer. Und welches war gleich der kürzeste Weg zum Treppenhaus? Wo war nochmals das Besucher-WC?
Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Sehr oft ist aber die räumliche Orientierung betroffen. Es ist vielleicht so, wie wenn Sie aus den Ferien zurückkommen und vergessen haben zu notieren, in welchem Parkhaus, auf welcher Ebene und in welcher Ecke sie vor zwei Wochen ihr Auto abgestellt haben. Und alle anderen scheinen genau zu wissen, wo sie hinmüssen. Gerade hier kann die Architektur einen wichtigen Beitrag leisten. Flure mit Aussenbezügen. Die Betonungen aller Elemente, welche für die Bewohnenden im Alltag wichtig sind und gleichzeitig das ‹Verschwindenlassen› aller Elemente, welche die Orientierung erschweren (Bild 2). Ein- und Durchblicke schaffen, ohne die Privatsphäre unnötig einzuschränken (Bild 1). Mitarbeitenden und Bewohnenden die Möglichkeit zu geben, die Räume nach der Eröffnung weiter zu gestalten. Die Standuhr in der Ecke ist dann nicht nur ein Gestaltungselement, von dem wir denken, es könnte alte Erinnerungen wecken. Von Mitgliedern der Wohngruppe verziert oder bemalt und mit viel Schweiss an einen neuen Platz gebracht, bekommt sie eine aktuelle Geschichte und kann so einzelnen Bewohnenden helfen, sich als Handelnde zu erleben und für sich einen Orientierungspunkt zu schaffen. Planung und Gestaltung könn(t)en so einen zentralen Beitrag zu den Themen Sicherheit, Selbständigkeit und Würde in Pflegezentren leisten.»
Erschienen in der Fachzeitschrift Heime und Spitäler (Ausgabe 2 / Mai 2023). Den Artikel als PDF herunterladen.