▶ DR. SYLVIA BLEZINGER
Psychiatrische Probleme sind nicht nur ein persönliches Unglück für die Betroffenen, sondern auch ein grosser finanzieller Faktor. Die Psychiatrien sind voll. Übervoll. Was tun? Neu bauen? Grösser bauen? Ein Blick über den Tellerrand ins Ausland.
In der Schweiz werden im Moment viele Psychiatrien neu gebaut, sind in Planung, oder gerade fertig gestellt wie die Psychiatrischen Dienste Aarau, wo innerhalb weniger Jahre sowohl die Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch die Erwachsenen- und Gerontopsychiatrie und die forensische Psychiatrie neu gebaut wurden (siehe frühere Ausgaben der H&S). Der Neubau der Psychiatrie Baselland wurde gerade eröffnet.
Entscheidungen für die Zukunft
Die Entscheidung für einen Neu- oder Umbau ist nicht ganz einfach und stellt die Weichen für die kommenden Jahrzehnte. Die Universitären Psychiatrischen Dienste Basel (UPK) gehen dies systematisch an. Die gesamte Geschäftsleitung inklusive Verwaltungsrat besichtigten im Rahmen der Entscheidungsfindung neu gebaute psychiatrische Einrichtungen in der Schweiz, in Deutschland und in den Niederlanden. Michael Rolaz (CEO) sagt anschliessend: «Der Strukturwandel lässt sich nicht aufhalten. Die Entwicklung der Psychiatrie geht hin zu immer stärkerer Öffnung. Die tarifliche Situation ändert sich schneller als ein Gebäude. Sie darf daher keinen Einfluss auf den Neubau haben. Wichtiger sind sektorenübergreifende Behandlungspfade und schlanke Prozesse.» Die Entscheide sind noch nicht gefallen, es bleibt spannend.
Die Lancet Psychiatric Commission befasst sich mit mehreren vorrangigen Bereichen für die Psychiatrie im nächsten Jahrzehnt und bis ins 21. Jahrhundert hinein. Dies stellt Herausforderungen und Chancen für den Berufsstand dar, sich zu behaupten und weiterzuentwickeln, um den Millionen von Menschen weltweit, die mit einer psychischen Erkrankung konfrontiert werden, die bestmögliche Zukunft zu sichern. Sie hat ein Modell zur zukünftigen Psychiatrie entwickelt, was die WHO als Pyramidenmodell übernommen hat. Selbstfürsorge und nichtinstitutionelle Versorgung durch die Gemeinschaft sind die Basis der Pyramide.
Der Blick über den Tellerrand hinaus
In den Niederlanden wird genau dieses Konzept aufgegriffen. Die Konsequenz: Eine intensive Verlagerung von stationärer zu ambulanter Behandlung. Wenn möglich, sollen Patienten in der eigenen Umgebung behandelt werden. Dieses Prinzip, das bereits in der Somatik umgesetzt ist, soll nun verstärkt in der Psychiatrie gelten.
Es gibt jedoch weitere Gründe: Zunächst einmal die stetig abnehmende Finanzierung. Hinzu kommt auch in den Niederlanden ein Mangel an Pflegekräften. Dr. Irene Weltens vom Psychiatrie-Zentrum GGz Breburg in Tilburg der Universität Maastricht hält eine Mischung von Lang- und Kurzzeitpflege in Stationen mit zehn bis zwölf Betten für sinnvoll. Ideal wären kleine wohnungsähnliche Stationen, in denen Patientinnen das Leben daheim üben können. Sie plädiert ausschliesslich für Einbettzimmer mit eigener Nasszelle. Mehrere Studien zeigen, dass die Natur extrem wichtig ist für den Heilungsprozess. Dieser Bezug nach aussen kann architektonisch durch Fenster hergestellt werden. Tapeten mit Naturmotiven sind jedoch ebenfalls hilfreich.
In Zukunft wird es in den Niederlanden weniger Neubauten geben, weniger stationäre Plätze und damit im Verhältnis mehr schwere Fälle in den Einrichtungen. Eine dieser Neubauten ist die Psychiatrie der Universitätsklinik Nijmegen. Das Motto dort ist: «Less bricks, more bytes, different behaviour» (weniger Ziegel, mehr Bytes, anderes Verhalten).
In Deutschland gibt es zurzeit heftige Diskussionen bezüglich der geplanten Weiterentwicklung der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung. Die gesetzlichen Krankenversicherer haben ein Konzept vorgelegt zur Weiterentwicklung der Modellvorhaben nach § 64b SGB V «Modellvorhaben zur Versorgung psychisch kranker Menschen». Dieses Konzept wird grossen Einfluss auf die zukünftige Vergütung haben. Und damit auch auf Planungen und zukünftige Neubauten.
Die Überlegungen der gesetzlichen Krankenkassen ist unter anderem:
❱ eine sektorunabhängige Bedarfsplanung und Vergütung
❱ die Forcierung einer weiteren Ambulantisierung und
❱ die Nutzung sogenannter Routinedaten zur Qualitätssicherung und Steuerung
Prävention, Förderung der Selbsthilfe oder Behandlung daheim kommen hier nicht in dem Mass vor wie in den Niederlanden. Dementsprechend werden in Deutschland auch noch mehr Psychiatrien neu gebaut.
Paul Bomke ist Vorsitzender der Fachgruppe psychiatrische Einrichtungen im Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD) und Geschäftsführer Pfalzklinikum AdöR, einem Dienstleister für seelische Gesundheit. Er hält eine rein institutionell gesteuerte psychiatrische und psychosoziale Versorgung für wenig zielführend. Besonders stolz ist er daher, dass man 2022 das grosse Ambulanz Zentrum in Landau eröffnen konnte. Und bereits 2021 startete das zukunftsweisende Modell-Vorhaben «Zuhause-Behandlung». Doch auch die Pfalzkliniken bauen noch laufend. Die Klinik für Gerontopsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie wurde 2014 fertig gestellt; durch die Erweiterung der Psychiatrie 2019 und 2020 wurde die Klinik PPP in Kaiserslautern aufgestockt. Demnächst beginnen PL-Architekten mit dem Bau der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Wie beeinflusst die Digitalisierung die Psychiatrie(-bauten
Die Online-Therapie ist inzwischen fast überall akzeptiert. Diese schneidet laut Heleen Riper, Universitätsklinik Amsterdam, sogar besser ab als die Präsenzkonsultationen. Auch dieses Ergebnis spricht gegen den Bau von Psychiatrien. Eine Psychologin und ein Laptop reichen im Prinzip aus. Auch Virtual Reality wird kommen. In der Psychiatrie des Universitätsklinikums Bonn gibt es einen separaten Raum für VR, in dem die Menschen auch Situationen üben können. Folge: Weniger und kleinere Behandlungsräume.
Fazit
Ist das wirklich so? Gar keine Psychiatriebauten mehr in Zukunft? Nein, natürlich nicht. Es wird auch in Zukunft noch Gebäude und stationäre Behandlung brauchen. Aber weniger. Eher wie in den Niederlanden sind in Zukunft die Psychiatrien eng den Spitälern angegliedert, um die Synergien zu nutzen. Letztendlich gilt auch: Der Betrieb einer psychiatrischen Klinik in alten Gebäuden ist möglich, aber für die Betriebsabläufe wahrscheinlich ineffizient. Effiziente Betriebsabläufe sind vor allem für das Personal wichtig. Gute Prozesse führen zu guter Arbeitsatmosphäre. Doch auch ohne Neubau lässt sich einiges modernisieren: Der Bezug zur Natur, mit Tapeten oder mit Fenstern, lässt sich auch nachträglich einfügen. Ein offenerer Zugang ebenfalls, was der Stigmatisierung entgegenwirkt. Geschickte Architektur kann manchmal auch Alt- und Neubau verbinden. Was jedoch keinesfalls benötigt wird: Mehr Betten.
Erschienen in der Fachzeitschrift Heime und Spitäler (Ausgabe 4 / Oktober 2023). Den Artikel als PDF herunterladen.