▶ DR. SYLVIA BLEZINGER
Knappe Budgets, mehr Hochbetagte und Demente, höherer Pflegebedarf mit (zu) wenigen Pflegekräften und kürzere Aufenthaltszeiten – wie gehen wir mit diesen Herausforderungen für Pflegeheime um?
In vielen Industrieländern, so auch in der Schweiz, altert die Bevölkerung. Dies führt zu einem Anstieg der Zahl älterer Menschen, die potenziell Pflege benötigen. Die Menschen bleiben zwar länger gesund, dafür leben sie länger. Damit kommen mehr Hochbetagte in die Heime. Gleichzeitig gibt es Alternativen zur stationären Pflege, wie betreutes Wohnen oder ambulante Pflegedienste. Staatliche Vorgaben und Förderprogramme führen allerdings dazu, dass viele ähnliche Gebäude errichtet werden. Ist das sinnvoll und zukunftssicher?
Die architektonische Entwicklung der Pflegeheime
Die Architektur von Heimen spiegelt deren Entwicklung wider, auch in Bedeutung und Organisation. Früher waren Pflegeheime (Altersheime) oft grosse, spitalähnliche Gebäude mit langen Fluren. In gemeinschaftlichen Schlafsälen wurden die Bewohner «versorgt». In der Schweiz begannen in den 1980er Jahren erste Initiativen zur Schaffung von alternativen Wohnformen für ältere Menschen, die auf eine stärkere Betonung von Selbstbestimmung und Gemeinschaft abzielten. In den 1990er Jahren wurden einige Pflegeeinrichtungen umgestaltet oder neu gebaut, um Wohngruppen- und Wohnbereichskonzepte zu integrieren, die den Bewohnern mehr Privatsphäre und Individualität bieten. Spezielle Demenzkonzepte kamen dazu (Beispiel Sonnweid, Wetzikon). Seit den 2000er Jahren hat sich der Trend zu Wohngruppen und Wohnbereichen in Pflegeheimen weiter verstärkt, mit einem zunehmenden Fokus auf der Förderung von Autonomie, sozialer Integration und Lebensqualität. In den letzten Jahren, insbesondere seit etwa 2010, sind viele neue Pflegeeinrichtungen entstanden oder umgebaut worden, um den Bedürfnissen einer alternden Bevölkerung besser gerecht zu werden. Und seit 2022 gibt es in Wiedlisbach das erste Demenzdorf in der Schweiz
Die genauen Jahreszahlen und Entwicklungen können je nach Region und Einrichtung variieren. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Übergang zu Wohngruppen- und Wohnbereichskonzepten in Pflegeheimen in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten deutlich erkennbar ist.
Henning Volpp ist Architekt der Gesellschaft für soziales Planen in Stuttgart und befasst sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema. Er zeigte auf der Konferenz «Das Pflegeheim der Zukunft» im Juni 2023 in Luzern eindrücklich, wie sich die Pflegeheime im Laufe der Zeit änderten und wie sie sich in Zukunft möglicherweise entwickeln werden. Generell sieht er Monokulturen bei Bauten kritisch und plädiert für vielfältige Angebots- und Gebäudestrukturen.
Wohngruppen sind sehr gut für Menschen mit Demenz. Doch nicht für alle Bewohner ist dies die ideale Baustruktur. Spezialisiertere Raumkonzepte für fittere mobile Bewohner und für schwer Pflegebedürftige sind wünschenswert. Die Hauptpunkte, die er bei der Konzeption für Bauten für Menschen mit Demenz anspricht, gelten eigentlich für alle: Wohnlichkeit, differenzierte Aufenthaltsflächen, Licht, attraktive Bewegungsflächen. Nicht zuletzt gewinnt die ambulante Pflege in Zukunft an Bedeutung.
Henning Volpp fordert klare Strukturen für die Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Und es ist eilig. Jeder kennt die demografischen Daten. Nicht alles kann ambulant gemacht werden. Er fordert – zu Recht – mehr Dynamik, mehr Verantwortung von Gemeinden und – sehr interessant – der Industrie.
Das Zentrum Artos in Interlaken
In Interlaken, dem malerischen Juwel der Schweiz, befindet sich das Zentrum Artos. Dort ist vieles von dem berücksichtigt, was auf unseren Konferenzen zum «Pflegeheim der Zukunft» immer wieder angesprochen wird: Die Architektur des Gebäudes vereint moderne Eleganz mit traditionellem Schweizer Flair. Grosse Glasfronten lassen das umliegende Bergpanorama in den Innenraum fliessen, während die sorgfältig gestalteten Innenräume eine harmonische Verbindung zwischen Ästhetik und Funktionalität schaffen. Werner Walti, Geschäftsführer im Zentrum Artos, bereitet es darauf vor, dass die Pflegebedürftigkeit weiter zunehmen wird. Das Regenbogenhaus aus dem Jahr 1997 wird jetzt zukunftsfähig umgestaltet: Auf den Stockwerken werden in den einzelnen Nischen die verschiedenen Jahreszeiten farblich und gestalterisch umgesetzt. Dies erhöht zwar die Wohnlichkeit, im Zentrum stehen dennoch die Arbeitsabläufe. Das Stationszimmer wird auf zwei Stockwerken in die Mitte der Pflegeabteilung verlegt. Der Ausguss wird auf beiden Stockwerken ins heutige Pflegebad verschoben, da das Bedürfnis zum Baden kaum mehr vorhanden ist und immer weniger Bewohnende selbstständig in den Speisesaal im Erdgeschoss gehen. Räumliche und infrastrukturelle Verbesserung sind im Zentrum Artos nie abgeschlossen.
Flüssig laufende Prozesse sind die Voraussetzung für einen effizienten Betrieb. Werner Walti weiss das und treibt die Digitalisierung voran. Bewohner- und Personaladministration laufen inzwischen weitgehend automatisiert. Per Knopfdruck können sämtliche Resultate abgerufen werden.
Angegliedert ist ein Hotel mit über 38 000 Logiernächten. Auf den ersten Blick ein ganz normales Hotel mit modernen und komfortablen Zimmern. Einzigartig ist allerdings, dass hier die Kombination von einem Dreisterne-Superior- Hotel mit einem Pflegezentrum gelungen ist. Auf Wunsch wird das Hotelbett durch ein Pflegebett ersetzt. Die hausinterne Spitex sorgt im Bedarfsfall für die Pflege. Und natürlich ist das Haus fast komplett barrierefrei.
Wenige Pflegekräfte – viel Komfort
Aus dem Mangel an Pflegekräften entstand eine neue Idee: Wohnen «mit flexiblen Dienstleistungen». Im August 2023 wurde der Umbau des Türmlihauses entschieden. Beim Umbau werden aus 44 Bewohnerzimmern 22 Zwei-Zimmer-Wohnungen für Menschen mit einer tiefen Pflegestufe (bis Pflegestufe 4). Das Ziel dieser Massnahme ist, die Wohnlichkeit, individuelles Wohnen und Lebensgestaltung zu fördern und zusätzlich die Fachkräfte zu konzentrieren. Werner Walti plant für die Zukunft: «Das Angebot ist für die zunehmende Zahl an Hochbetagten gedacht, welche noch fit sind, die sich aber bewusst sind, dass diese Fitness sehr fragil ist und durch eine kleine Krankheit oder einen Sturz ins Wanken kommen kann. In dieser Lebensphase möchte man nicht in ein Heimzimmer mit 18 m2 ziehen, sondern halt auch noch ein bisschen wohnen und individuelle Freiheiten geniessen.»
Der Umbau erhält eine neue Signaletik (Wegeleitung). Dieses Thema ist bei vielen Heimen noch immer nicht auf Geschäftsleitungsebene angekommen. Im Zentrum Artos schon. Anfang Februar wurde der Auftrag erteilt. Die Signaletik wird «aufgeräumt» und vereinheitlich. Nicht nur hilft eine gute Signaletik bei der Orientierung, sondern ist auch Gestaltungselement, Corporate Identity, und gibt ein «Zuhause-Gefühl». Im Zentrum Artos fliesst das Naturthema der Innenarchitektur wie selbstverständlich in die Signaletik ein.
Und es soll bezahlbar bleiben: Der Tarif beinhaltet die Kosten für Infrastruktur, Hotellerie und Betreuung sowie den Anteil der Pflege. Für das Wohnen mit Pflege kann Ergänzungsleistun (EL) beantragt werden
Die Zukunft beginnt heute
Das Zentrum Artos in Interlaken verkörpert die Vision einer besseren Zukunft – eine Zukunft, die von Sorge um das Wohlergehen älterer und pflegebedürftiger Menschen geprägt ist. Das bedeutet permanente Veränderung. Permanentes Nachdenken darüber, wie sich die Welt und die Erfordernisse ändern. Im vergangenen Jahr feierte das Zentrum Artos sein 100-jähriges Bestehen. Gut, dass es heute ganz anders aussieht als vor 100 Jahren!
Erschienen in der Fachzeitschrift Heime und Spitäler (Ausgabe 1 / März 2024). Den Artikel als PDF herunterladen.